Ich bin auf dem Weg zur Grundschule St. Georg. Mich interessiert ein Lern-Projekt, bei dem die Kinder den Referenten nur online erleben können. Zugegeben, ich bin skeptisch. Ich kenne den Kurs „Gemeinsam lernen Kinder Singen“ mit 12 Präsenz-Einheiten. Mehrfach habe ich beobachtet, wie Kinder begeistert mitmachen, wenn Marcus Ullmann, Profisänger und Gesangspädagoge, vor den Kindern steht und im direkten Austausch mit ihnen ist. Jetzt soll dasselbe online über einen Bildschirm laufen?
Nun, ich singe selbst sehr gern und da mag es naheliegen, dass ich mich leicht begeistern lasse, wenn Kinder mit offensichtlichem Spaß gemeinsam ihre Stimmen erklingen lassen. Ich bin aber gerade deshalb auch umso kritischer, wenn Kinder selbstständig, zwar in Gemeinschaft, aber vor einem Monitor lernen sollen.
Das glaube ich erst, wenn ich es sehe!
In der Aula der Schule treffe ich Marcus Ullmann. Er bereitet heute selbst die Technik vor. Noch ist der Online-Kurs frisch und die Erfahrungen mit Technik und Umsetzung stellen sich erst nach und nach ein. Auch heute passt zuerst etwas nicht. Doch schließlich stellt sich heraus, woran es krankt, und die Kinder können ihre Plätze einnehmen. Über den Link zum Kurs kann begonnen werden.
Die ursprünglich 12 Einheiten à 45 Minuten hat Marcus Ullmann in 24 20minütige Abschnitte zerlegt und aufgenommen (http://www.marcus-ullmann.de). „Das gibt Kindern und Lehrer*innen größtmöglichen Spielraum“, erklärt er. Es leuchtet mir ein, dass es gerade in Corona-Zeiten zuträglich sein kann, wenn die zwei Einheiten einer Stunde flexibel und nach Bedarf der Kinder in ihrem Schulalltag eingesetzt werden können.
Es geht los.
Die Stimme aus dem Fernseher fragt: „Habt ihr denn Lust zu singen?“ Und die Zweitklässler rufen laut: „Ja-a-a-a!“ Ich bin verblüfft. Sie antworten, als wäre Marcus Ullmann im Raum. Kinder sind schon toll und manchmal einfach schneller und flexibler als wir Erwachsenen. So stellen sie sich offensichtlich ohne große Schwierigkeiten auf neue Formen des Lernens ein, in diesem Fall aufs Online-Lernen.
Ich beobachte genau. Die Kinder singen mit, folgen den Anweisungen aus dem TV und lernen so miteinander. Das „Tandemlied“ wird angestimmt, sie stimmen ein und ordnen sich während des Singens ihren Partner*innen zu, um zu zweit – soweit es unter den gegebenen Hygieneregeln machbar ist – Übungen durchzuführen. Dann heißt es: „Ihr könnt euch jetzt wieder setzen!“ Marcus Ullmann lässt den Kindern Zeit, neue Dinge auszuprobieren, und wiederholt die Lieder. Er tut dies in einer Art, die den Eindruck erweckt, als wäre er anwesend. Ullmann spricht auf den Aufnahmen zu den Kindern, als säßen sie vor ihm; er sieht sie quasi durch die Kamera an und erreicht sie so ganz offensichtlich.
Ich freue mich, dass es funktioniert!
Läuft die Technik, ist der Online-Kurs ein echter Gewinn! Und, damit die Kinder auch daheim singen können, sind alle Lieder und Übungen auf dem Ullmannschen You Tube-Kanal in kleinen Filmeinheiten abrufbar. So können auch Eltern und Geschwister beteiligt werden am Tandem-Projekt.
In der Grundschule St. Georg geht es gleich weiter: Die Kinder wollen sofort mit dem zweiten Teil der 2. Stunde weitermachen. Während der Pause beginnt ein Kind das Lied vom „Herrn von Hagen“ zu singen. Sofort stimmen andere Kinder ein, bis die ganze Klasse singt. Der „Herr von Hagen“ ist ein Charakter, der im Wechsel mit drei anderen immer mal wieder auftaucht und eine besondere Funktion hat. Er ist für die Artikulation, das deutliche Sprechen, zuständig. Es gibt auch noch die „Tante Anna“, eine alte Opernsängerin, die die Gesangsübungen einleitet, und zwei weitere Charaktere. Aber ich will hier nicht alles verraten…
Ich komme aus dem Staunen nicht heraus. Im zweiten Teil kommt eine Stelle, da fragt Ullmann die Kinder: „Wisst ihr, was eine Marionette ist?“ Ein Kind sagt laut in die Pause: „Ja, eine hängende Puppe.“ Und ich traue meinen Ohren nicht, als aus dem Fernseher kommt: „Genau – eine Puppe, die aufgehängt ist.“ Ich muss sehr breit grinsen hinter meiner Maske. Nur gut, dass das niemand sehen kann. Spätestens jetzt bin überzeugt: Das Konzept geht auf!
Was bedeutet das für den Unterricht an Grundschulen?
Kinder können auch lernen, wenn die lehrende Person nicht im Raum ist, sondern über einen Monitor kommt. Kinder sind flexibel, lernbereit und setzen sich mit neuen Situationen sehr konstruktiv auseinander. Ich möchte nicht falsch verstanden werden: Ich bin NICHT für den Ersatz von Lehrkräften durch Fernseher, aber ich sehe Potenzial, das ich vor einem halben Jahr noch nicht gesehen habe, nicht sehen konnte. Die Digitalisierung unserer Schulen wird immer dringlicher und viele vermissen noch immer, dass die Umsetzung der postulierten Ziele schneller funktioniert. An alle, die mit guter Ausstattung bereits losgelaufen sind: Bravo – machen Sie weiter so!
Die Kinder sind bereit!
Dorothee Kreling